Strefaverfolgung im Übermass in Baden-Württemberg

Anfrage nach dem Landesinformationsfreiheitsgesetz vom 25.7.2017 mit Antwort vom 12.9.2017

https://fragdenstaat.de/a/24036


Argumentation zur Strafverfolgung im Übermaß in Baden-Württemberg

1. Bundesverfassungsgericht 1994 im “Cannabis-Urteil” zu gelegentlichem Eigenverbrauch geringer Mengen

http://www.bverfg.de/e/ls19940309_2bvl004392.html

Vorbemerkung: Strafvorschriften zu Betäubungsmitteln sind prinzipiell verfassungskonform mit dem Grundrecht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit. Aus Gründen der Verhältnismässigkeit sind dem Strafverfolgungsorganen jedoch Grenzen auferlegt, was den gelegentlichen Eigenverbrauch geringer Mengen von Cannabisprodukten angeht.


[Dritter Leitsatz] "Soweit die Strafvorschriften des Betäubungsmittelgesetzes Verhaltensweisen mit Strafe bedrohen, die ausschließlich den gelegentlichen Eigenverbrauch geringer Mengen von Cannabisprodukten vorbereiten und nicht mit einer Fremdgefährdung verbunden sind, verstoßen sie deshalb nicht gegen das Übermaßverbot, weil der Gesetzgeber es den Strafverfolgungsorganen ermöglicht, durch das Absehen von Strafe (vgl. § 29 Abs. 5 BtMG) oder Strafverfolgung (vgl. §§ 153 ff. StPO, § 31a BtMG) einem geringen individuellen Unrechts- und Schuldgehalt der Tat Rechnung zu tragen. In diesen Fällen werden die Strafverfolgungsorgane nach dem Übermaßverbot von der Verfolgung der in § 31a BtMG bezeichneten Straftaten grundsätzlich abzusehen haben.


2. Landesjustizministerium Baden-Württemberg 2017 - Gelegenheitskonsum ist (bis) ein Mal pro Monat

http://www.landtag-bw.de/files/live/sites/LTBW/files/dokumente/WP16/Drucksachen/2000/16_2080_D.pdf


[Antwort auf Frage 2] "Nach verbreiteter Ansicht wird es für sachgerecht gehalten, die Grenze für den Gelegenheitskonsum i. S. d.§29 Abs.5 BtMG bei einem Konsum von einmal pro Monat anzusetzen. Nach einer älteren Entscheidung des Bundesgerichtshofs [1987] kommt beim Erwerb von zwei Gramm Haschisch in vier Fällen innerhalb von drei Monaten die Anwendung von § 29 Abs. 5 BtMG noch in Betracht (BGH StV 1987, 250).”


3. Landesjustizministerium Baden-Württemberg 2017 - Erneute Einstellung nur im Jahresabstand

http://www.landtag-bw.de/files/live/sites/LTBW/files/dokumente/WP16/Drucksachen/2000/16_2080_D.pdf


[Antwort auf Frage 7] "Wenn keine Anhaltspunkte für Dauerkonsum vorliegen und auch sonst keine Straftaten begangen wurden, kann eine Einstellung gem. § 31a BtMG im Jahresabstand auch mehrfach erfolgen."


Also stellen die Strafverfolgungsbehörden in Baden-Württemberg beim Besitz einer geringen Menge in Abständen von weniger als einem Jahr gemäß §31a BtMG nicht mehr ein.


4. Fazit

DIe Einstellungspraxis n Nr. 3 der Strafverfolgungsorgane im Wiederholungsfall ist ein Verstoss gegen das Übermassverbot, da bei Gelegenheitskonsum geringer Menge (siehe Nr. 1) grundsätzlich von Strafverfolgung abzusehen ist.


Anhang 1 - Absatz 166 des “Cannabis-Urteils”

http://www.bverfg.de/e/ls19940309_2bvl004392.html

“Darüber hinaus gilt seit dem 16. September 1992 der neue § 31a BtMG, der speziell für die Fälle des § 29 Abs. 5 BtMG ein Absehen von der Strafverfolgung ermöglicht, wenn die Schuld des Täters als gering anzusehen wäre und kein öffentliches Interesse an der Strafverfolgung besteht. Von der Einstellungsmöglichkeit nach § 153b StPO in Verbindung mit § 29 Abs. 5 BtMG unterscheidet sich § 31a BtMG dadurch, daß er eine geringe Schuld des Täters sowie das Fehlen eines öffentlichen Interesses an der Strafverfolgung ausdrücklich voraussetzt. Indessen werden diese Tatbestandsmerkmale bei dem Umgang mit Cannabisprodukten in aller Regel bei dem gelegentlichen Eigenverbrauch ohne Fremdgefährdung erfüllt sein und die Strafverfolgungsorgane - insbesondere die Staatsanwaltschaften, die bis zur Erhebung der Anklage allein zu entscheiden haben - dann nach dem Übermaßverbot von der Verfolgung der in § 31a BtMG bezeichneten Straftaten abzusehen haben. Verursacht die Tat hingegen eine Fremdgefährdung, etwa weil sie in Schulen, Jugendheimen, Kasernen oder ähnlichen Einrichtungen stattfindet, oder weil sie von einem Erzieher, von einem Lehrer oder von einem mit dem Vollzug des Betäubungsmittelgesetzes beauftragten Amtsträger begangen wird und Anlaß zur Nachahmung gibt, so kann eine größere Schuld und ein öffentliches Interesse an der Strafverfolgung vorliegen.”


Anhang 2 - Absatz 162 des “Cannabis-Urteils”

http://www.bverfg.de/e/ls19940309_2bvl004392.html

“Unter generalpräventiven Gesichtspunkten ist es danach vor dem verfassungsrechtlichen Übermaßverbot gerechtfertigt, auch den unerlaubten Erwerb und Besitz von Cannabisprodukten zum Eigenverbrauch allgemein als strafwürdiges und strafbedürftiges Unrecht mit Kriminalstrafe zu bedrohen.


Allerdings kann gerade in diesen Fällen das Maß der von der einzelnen Tat ausgehenden Rechtsgütergefährdung und der individuellen Schuld gering sein. Das gilt zumal dann, wenn Cannabisprodukte lediglich in kleinen Mengen zum gelegentlichen Eigenverbrauch erworben und besessen werden. Diese Fälle machen einen nicht geringen Teil der nach dem Betäubungsmittelgesetz strafbaren Handlungen aus. Nach dem "Bericht der Bundesregierung über die Rechtsprechung nach den strafrechtlichen Vorschriften des Betäubungsmittelgesetzes in den Jahren 1985 bis 1987" vom 11. April 1989 (BTDrucks. 11/4329 S. 15) wird rund ein Viertel aller wegen eines Betäubungsmitteldelikts eingeleiteten Strafverfahren entweder durch die Staatsanwaltschaft oder durch das Gericht eingestellt. Dabei betreffen etwa 80 bis 90 % der Einstellungen Cannabis-Täter mit Kleinmengen zum Eigenkonsum, die den Grundtatbestand des § 29 Abs. 1 BtMG erfüllt haben. Es spricht viel dafür, daß die eingestellten Strafverfahren zu einem erheblichen Teil Fälle des unerlaubten Erwerbes und Besitzes betreffen, weil diese Straftatbestände nach dem Bericht der Bundesregierung (a.a.O. S. 12) auch 51 % der Verurteilungen zugrunde liegen. Nach der vom Bundesgesundheitsministerium veröffentlichten Repräsentativerhebung 1990 gaben 56,7 % der befragten Cannabiskonsumenten die Häufigkeit ihres Konsums im letzten Jahr mit ein- bis fünfmal an. Nach alledem ist - ungeachtet der insgesamt großen Bedeutung, die die Gesamtzahl der Kleinkonsumenten für den illegalen Drogenmarkt hat - der individuelle Beitrag der Kleinkonsumenten zur Verwirklichung der Gefahren, vor denen das Verbot des Umgangs mit Cannabisprodukten schützen soll, gering; anderes kann etwa gelten, wenn die Art und Weise des Konsums dazu geeignet ist, Jugendliche zum Gebrauch der Droge zu verleiten.

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Beschränkt sich der Erwerb oder der Besitz von Cannabisprodukten auf kleine Mengen zum gelegentlichen Eigenverbrauch, so ist im allgemeinen auch die konkrete Gefahr einer Weitergabe der Droge an Dritte nicht sehr erheblich. Entsprechend gering ist in aller Regel das öffentliche Interesse an einer Bestrafung. Die Verhängung von Kriminalstrafe gegen Probierer und Gelegenheitskonsumenten kleiner Mengen von Cannabisprodukten kann in ihren Auswirkungen auf den einzelnen Täter zu unangemessenen und spezialpräventiv eher nachteiligen Ergebnissen führen, wie etwa einer unerwünschten Abdrängung in die Drogenszene und einer Solidarisierung mit ihr.”